Dr. Ingo Uhlig - Katalogtext zur Ausstellung 'Enlightments'

Dr. Ingo Uhlig - Katalogtext zur Ausstellung 'Enlightments'

Die Körper der Philosophie. Das Buchmedium bei Till Julian Huss

Die Meditationen von René Descartes gelten als Gründungstext einer Epoche, die den Namen „die Aufklärung“, „les lumières“ oder „the enlightenment“ trägt. 1641 ist dieses Buch in Paris erschienen. Die wohl berühmteste darin vorgetragene These lautet, dass die physische Existenz unserer Welt keineswegs sicher ist: Immer besteht die Möglichkeit, dass die uns umgebenden Erscheinungen und unser Erleben nicht real sind, sondern nur geträumt werden. Der Philosoph steigert sich in diesen Zweifel – in die Frage ‚Wache ich oder träume ich?’ – hinein, er verdächtigt die vertrautesten Umstände seiner Existenz der Falschheit. So hinterfragt er alles, um schließlich die Eigenschaften unbezweifelter Existenz zu finden. Begründet wird diese „erste Philosophie“ auf rein geistig-rationalen Schlüssen: Nur das „ich denke“ und darauf aufbauend die Sätze der Mathematik können – im Wachen wie im Träumen – Realität beanspruchen. Keinesfalls aber kann ein tatsächlicher philosophischer Gedanke bei körperlichen Dingen oder sinnlichen Erfahrungen ansetzen. Nur das natürliche, vom cogito verbürgte Licht kann – unterstützt durch die Kräfte eines wahrheitsliebenden Gottes – für den Aufbau einer ersten Philosophie das Fundament bilden.1

Auf der einen Seite fällt die physische Welt damit aus dem Bereich philosophischer Bemühung und wird weitgehend sich selbst überlassen: „Körper, Gestalt, Größe, Bewegung und Ort sind nichts als Chimären“.2 Auf der anderen Seite steht das von allen sinnlichen Anteilen gelöste Denken als etwas vollkommen Isoliertes. Diese Substanzentrennung erfährt bei Till Julian Huss ihren paradoxen Kommentar. Die Strenge des cartesischen Gedankens legt jene Nachfrage nahe, die vom Buchobjekt unmittelbar gestellt wird: Sind die Meditationes de prima philosophia nicht zuallererst etwas Physisches, ein Buch mit Erscheinungsjahr und Ort? Sind sie nicht zuallererst Papier, Leim, Farbe? Sind es nicht Schriftzeichen, Absätze, Seiten, Einbände? Der Neuanfang des Denkens muss eine physische Verbreitungsform finden und er findet sie im Hauptmedium der Aufklärungszeit: dem Buch. Das wusste auch Descartes, der die spielerische, aber naheliegende Frage unterließ, ob nicht auch eine 1641 als physisches Buch erschienene Abhandlung nur geträumt ist?3
Das Buch, dieser handliche und handwerklich erzeugte Körper, betont hier sein eigenes Recht, indem er sich wie ein Sarkophag um die Gedanken legt. Eine sperrige, alptraumartige Physis. Der Dichter Jean Paul, den die cartesischen Traumthesen immer fasziniert haben, sprach 1795, also gegen Ende der Aufklärung, einmal davon, dass man sich dieses Denken als eine Art Baumnymphe, eine hamadryade vorstellen könne, die immer von einer körperlichen Rinde oder Borke umgeben bleibt.4

Nietzsches Buch Die Fröhliche Wissenschaft erschien im Jahr 1882 in Chemnitz, geschrieben wurde das Buch vor allem während eines Winteraufenthalts Nietzsches in Genua. Nietzsche war zu dieser Zeit fast blind und nahm das Licht, die Wärme ebenso wie die Musik Italiens als heilsam, leicht und spielerisch wahr. Nietzsche bringt in der Fröhlichen Wissenschaft die berühmte These vor, dass Gott tot sei und dass mit diesem Tod die lange Geschichte des europäischen Denkens eine folgerichtige Station und Konsequenz durchläuft. Man darf sich von dieser knappen und uns allzu vertrauten Formel nicht täuschen lassen: Der Name ‚Gott’ meint hier weit mehr als eine Figur der christlichen Religionsgeschichte, er meint auch und vor allem die Urteils- und Wahrheitssysteme bürgerlichen Lebens und die Grundwerte bürgerlicher Moral. Nietzsche sah darin Institutionen, die das Leben verurteilen, unterwerfen und auf hinterhältige Weise erkranken lassen.

Sicher könnte man zwischen den beiden Büchern von René Descartes und Friedrich Nietzsche einen ideengeschichtlichen Zusammenhang konstruieren: Beide wären dann Stationen eines spezifisch abendländischen Rationalismus, einer abendländischen Metaphysik. Aber die Konstellation, in die beide Bücher hier treten, ruft noch einen anderen – leichteren – Gedanken hervor: Beide Male nämlich verliert das Denken und jener Mensch, der diesem Denken konsequent folgt, jeden ihm vertrauten Halt. In dieser Hinsicht hat der „tolle Mensch“ aus dem 125. Stück der Fröhlichen Wissenschaft5 durchaus seinen Vorläufer in der misstrauischen Erzählerfigur, die in den cartesischen Meditationen zum cogito vordringt.

Beide Male wird in radikaler Weise Neuland betreten und eine tabula rasa erzeugt. Beide Male stehen so der Bruch mit dem Vertrauten und eine Freisetzung des Gedankens im Vordergrund. Beiden Büchern ist etwas Zerstörerisches, aber ebenso Befreiendes gemeinsam: Descartes, der die ausgedienten Lehrgebäude der Scholastik entfernen muss, um eine neue Philosophie zu begründen, Nietzsche, dem es mit dem Gedanken „Gott ist tot“ nicht um eine Art Rache an der christlichen Tradition geht, sondern für den die Freude am Neuen und an der Wiederkehr des Neuen im Vordergrund steht. Ein schattenloser Vormittag...

Beide Bücher markieren damit einen Wandel von Sichtweisen, ein Verrücken und Neueinnehmen der Perspektive. In der historischen Situation, in der sie jeweils erschienen – 1641 beziehungsweise 1882 – lehrten sie anders als bislang zu sehen. Zu diesen Zeitpunkten fällt ein neues Licht auf die Dinge und den Menschen, ein Licht, das ihre Gestalt und ihre Beziehungen verändert.

Als solche Ereignisse, mit Nietzsche könnte man auch sagen: als solche „Taten“, entnimmt sie Till Julian Huss der Philosophie und der Philosophiegeschichte und transformiert sie ganz ausdrücklich zu Kunstobjekten. Im Zuge dieser Umwandlung kommt es zu einem betonten Überschuss des Gegenständlichen und Objekthaften – dem eigenwilligen Buchkörper. Aus der Sicht der Philosophiegeschichte ließe sich darin ein Hinweis auf das historische Gewicht und den Monumentcharakter dieser Schriften entdecken. Wesentlicher scheint aber der Sachverhalt, dass Philosophie und Kunst hier zu einer unauflösbaren Einheit gebunden werden. Die dahinterstehende Idee lautet, dass das Denken auch ästhetisch ist und dass wiederum das Ästhetische einen philosophischen Gedanken trägt.

Im Zentrum dieser Verbindung von Kunst und Philosophie steht das Licht, das den Philosophen (Descartes ebenso wie Nietzsche) häufig als Metapher dient, sie aber auch permanent über den rein gedanklichen Horizont hinaus auf das Sichtbare und Sinnliche verweist. Das Licht errichtet Übergänge zwischen der Geschichte des Denkens und der Geschichte des Sichtbaren. Eine der berühmtesten Szenen, die auf einem solchen Übergang spielen, findet sich im schon erwähnten 125. Stück der Fröhlichen Wissenschaft. Die Philosophie findet hier plötzlich einen Akteur und eine ausgesprochen dramatische Form: Sie handelt von Nietzsches tollem Menschen, der am hellen Vormittag eine Laterne angezündet hat und damit auf den Markt und unter Menschen läuft.

1 Vgl. zum Begriff des „natürlichen Lichts“ die berühmte Formulierung aus einem Brief Descartes an Marin Mersenne vom 16. Oktober 1639: „car tous les hommes ayant vne mesme lumière naturelle, ils semblent deuoir tous auoir les mesmes notions“, Œuvres de Descartes, hg. v.
Charles Adam & Paul Tannery, Paris 1898, Bd. II, S. 598.
2 Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übers. v. Artur Buchenau, Hamburg 1954, S. 17.
3 In einem Text, dessen genaue Entstehungszeit unklar ist, verwendet Descartes die Form des Dialogs für die Weitergabe seines philosophischen Programms. Vgl. La recherche de la vérité par la lumière naturelle (Auf der Suche nach der Wahrheit durch das natürliche Licht), Würzburg 1989. Zur Entstehung dieses Textes vgl. die „Vorbemerkung“ von Gerhart Schmidt, ebd. S. 7-24. Sowie Ernst Cassirer, Descartes. Lehre – Persönlichkeit – Wirkung, Hamburg 1995, S. 126ff.
4 Jean Paul, Hesperus oder 45 Hundposttage, in: Ders., Sämtliche Werke, Abt. I, hg. v. Norbert Millner, München 1970ff, Bd. I, S. 711f.
5 Friedrich Nietzsche, Werke, hg. v. Karl Schlechta, München 1967, Bd. II, S. 126f. Mit Gilles Deleuze und Félix Guattari ließe sich diese Figur als eine „Begriffsperson“ bezeichnen. Vgl. Dies., Was ist Philosophie?, Frankfurt am Main 2000, S. 70ff.

Elena Höckmann - Katalogtext zur Ausstellung 'Enlightments'

Elena Höckmann - Katalogtext zur Ausstellung 'Enlightments'

Das Bildzitat zwischen Wieder-holung & autonomer Geste

Die Leinwandarbeiten Enlightments des Künstlers Till Julian Huss nehmen in der gleichnamigen Ausstellung in unterschiedlicher Weise Bezug auf ihren Titel: Zum einen untersucht der Künstler mit Rückgriffen auf die Kunstgeschichte die Entwicklung der Lichtmetaphorik in der Geschichte der Philosophie. Zum anderen thematisiert er auf diese Weise die Darstellungsformen des Lichtes in der Malerei per se und überträgt sie in die Gegenwart. Huss’ Untersuchungen beruhen auf der Annahme, dass seit der Moderne eine Senkung bis hin zur Verklärung des Lichtes innerhalb der Kunst stattgefunden hat. Die Leinwandarbeiten sind Teil eines hauptsächlich in diesem Jahr entstandenen Werkzyklus’, zu denen des Weiteren drei Filme und drei Buchobjekte zählen.

Die Tradition des Kosmischen und Göttlichen mit seinen Ursprüngen in der Antike bildet die bis ins Mittelalter gültige Tradition eines komplexen philosophischen Lichtbegriffes. Auch innerhalb von Darstellungsformen der Kunst bleibt die Idee des Lichtes noch lange dem schwer greifbaren Überirdischen verpflichtet: konfus und allgegenwärtig bleibt es ein erhöhtes Prinzip. Erst im 17. Jahrhundert gewinnt das Licht als Metapher irdischer Aspekte an Bedeutung und die Senkung im doppelten Wortsinn beginnt: Durch die horizontal immer weiter führende pluralistische Auffassungen von Welt, Vernunft, Religion und Leben insbesondere schließlich in der Moderne und Postmoderne, so Huss, kommt es zur Verklärung des Lichtes. Licht ist nun nicht mehr einer höheren Instanz geschuldet, sondern entspricht nun ganz profanen Gesten, wie der Selektion und Manipulation.

Till Julian Huss’ Verfahren entgegnet der augenscheinlichen Klarheit in Komposition und Stil der Bilder mit Komplexität. Die aus zwölf Arbeiten bestehende Werkgruppe zeigt acht Porträts von jungen Menschen in gestellten Positionen, welche auf den ersten Blick ungewöhnlich, fast pathetisch, anmuten. Diese Posen zitiert der Künstler aus Werken der Kunstgeschichte zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert. Er lässt sie von seinen Modellen wieder-holen und isoliert sie auf diese Weise von ihrem ursprünglichen Kontext. Seine Motive erhalten eine neue, metaphorische Präsens, da sie die dem Ursprung entnommene Zeit ignorieren und neue Möglichkeiten der Narration bieten. Dem Betrachter werden auf diese Weise die ihm gegebenenfalls bekannten Attitüden der Figuren wieder neu zur Verfügung gestellt. Trotz minimaler Inszenierung erhalten die Porträtierten andere Rollen und geraten in eine neue persönliche Beziehung zu ihrem Betrachter. So wird die Freiheit aus Eugène Delacroix’ Der 28. Juli – Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden in Till Julian Huss’ 1830 zu einer Demonstrantin der Gegenwart. Doch was ist es genau, was diese prominente Geste trotz der markanten Attribute zu einer zeitgenössischen macht? Statt des Gewehres trägt die Dargestellte ein anderes Requisit: eine Transportrolle für Papierarbeiten. Dieses Requisit ist ebenso in das Zeitgenössische einzuordnen wie ihre Kleidung. Besonders auffällig und irritierend für den Betrachter jedoch ist das Fehlen eines Handlungsrahmens, welcher auf Narration verweist und das extrovertierte Verhalten der Frau erklären könnte. Ebenso ist es bei 1434, auf dem das Jan van Eycks prominentem Gemälde entnommene Paar sich in einer unbekannten Sphäre die Hände reicht und der Eindruck einer Bühneninszenierung entsteht.

Diese Trennung von ihrer Ursprungssituation zeigt das Wiederholte buchstäblich in neuem Licht. Die Wiederholung ist Mittel zum Zweck einer künstlerischen Untersuchung des Lichts, welche von Huss selbst in der Metaphysik Rene? Descartes und dem Postulat Friedrich Nietzsches vom Tod Gottes verortet wird. So ist das Licht von jeglicher göttlichen Metaphorik befreit und stellt stattdessen die artifizielle – von Menschenhand geschaffene – Beleuchtung als technisches Mittel in den Vordergrund. Diese Bewusstmachung der Lichtregie erzeugt – in Verbindung mit der bewussten Auswahl der Motive – den Eindruck einer fotografischen Inszenierung und verweist auf das Verfahren des Künstlers, die Porträtierten zunächst in Szene zu setzen und zu fotografieren, um sie dann zu malen. Einige Motive existiert sowohl in farbiger Ausführung, als auch in schwarz-weiß.

Es ist kein Zufall, dass 1830, dessen Titel auf das Entstehungsjahr des Vorbildes verweist, einen derart theatralischen Charakter aufweist. Dieses von Huss selektiv eingesetzte Licht kann mit der Entwicklung der Lichteffekte seit den 1820er Jahren und der weit herkommenden Wandlung zur immer technischer werdenden Lichtmetaphorik in Verbindung gebracht werden. Die größte Veränderung innerhalb der Lichtmetaphorik des 19. Jahrhunderts besteht jedoch in der Grundannahme, dass die Optik als Ausgangszustand die Dunkelheit annimmt. Das in der Antike etablierte dualistische Grundprinzip von Licht und Finsternis – welche gleichermaßen in Konkurrenz und Abhängigkeit stehen – wird nun aufgehoben. Der Gebrauch von Scheinwerfern im Atelier macht den Zwischenschritt innerhalb der Produktion zu einem unumgänglichen Imperativ, denn er hat die harten Lichtkegel und kontrastreichen Schattenwürfe zur Folge, welche die eigentümliche Atmosphäre kreieren. Vor allem aber entfernt es die Zitate noch weiter von ihren Referenzbildern. Denn es stellt sich die Frage, welche Rolle ein Vorbild noch spielen kann, wenn es seinem Kontext, seinem Stil und seiner Ikonografie entledigt wird. Die Antwort lautet: die Aneignung fremder Bildlichkeit ermöglicht es Huss, Fragestellungen historischer Realitäten zu artikulieren und ihr Verhältnis zueinander zu untersuchen. Ikonografisch erfahren die Bilder eine Emanzipation, welche sie von den alten Meistern trennt. Für den Betrachter bedeutet das jedoch nicht wie in anderen Aneignungsverfahren der Kunst (seit den Siebzigern) das Aufzeigen von Differenzen zwischen Vorund Nachbild oder gar die Dekonstruktion der Referenzen. Enlightments stellt eine autarke Werkgruppe dar, welche in künstlerischer Unabhängigkeit zur Kunstgeschichte steht. Das Zitat der Pose ist lediglich Ankerpunkt für eine zeitliche Verortung einer Untersuchung des Lichtes. Es entsteht eine Zitatkultur innerhalb des Oeuvres, deren Verfahren nur als Instrument, als Werkzeug, als rhetorisches Mittel, zu verstehen ist.

Karsten Löckemann - Katalogtext zur Ausstellung 'cut'

Karsten Löckemann - Katalogtext zur Ausstellung 'cut'

Dem Moment erlegen oder das Spiel mit den Posen – Ein Besuch im Atelier von Till Julian Huss

Es sind diese kurzen Augenblicke und dramatischen Momentaufnahmen, die den Filmstill als Vorlage und Inspirationsquelle für unzählige zeitgenössische Künstler attraktiv machen. Gerade der Film, aber auch das Fernsehen sind mit Sicherheit die Medien, die vor allem diese junge Künstlergeneration mehr als alles andere geprägt haben.
Die Flüchtigkeit dieses Mediums verweist symbolisch mit Dramatik und Nachdruck auf die Schnelllebigkeit unserer Zeit.
Auch der junge Maler Till Julian Huss sucht immer wieder die Begegnung mit den bewegten Bildern. Sowohl für seine farbigen Arbeiten als auch für seine Schwarz-Weiß-Serien hat er sich an Filmvorlagen orientiert.
Die schwarz-weißen Gemälde des Künstlers entführen den Betrachter in ihrer ganz eigenen Ästhetik in die Welt des Stummfilms der 1920er- und 1930er-Jahre. Posen und Momentaufnahmen der dargestellten Paare lassen eine dramatische Handlung erahnen, erschließen sich aber nie vollkommen. Auch die Bildtitel geben die konkrete Vorlage nicht preis.
Vielleicht sind es ja auch erfundene Szenen, mit denen der Künstler dem Betrachter ein Rätsel aufgeben will?
Die amerikanische Fotokünstlerin Cindy Sherman hat sich bereits in den 1970er-Jahren für ihre große 70-teilige Fotoserie Untitled Film Stills von Schwarz-Weiß-Melodramen der 1950er- und 1960er-Jahre inspirieren lassen. Auch hier ist man dem filmischen Moment erlegen und glaubt, die Szene irgendwoher zu kennen. Die Sequenzen sind aber alle völlig frei erfunden, allerdings in perfekter Weise inszeniert.
Ähnlich wie Cindy Sherman mit dem Medium Fotografie versucht auch Huss mit seiner Malerei den Betrachter zu packen, indem er nur einen kurzen Moment einer Geschichte anreißt. Posen, Stimmungen, klassische Rollenspiele und nahezu eingefrorene Filmsequenzen sollen die Fantasie des Betrachters anregen und lassen ihm Freiraum, seine eigene Geschichte zu entwickeln.

Auf ganz ähnliche Weise scheint auch der polnische Künstler Wilhelm Sasnal in oft fast comicartiger schwarz-weiß Manier Momente in seiner Malerei zu bannen. Allerdings ist die Bandbreite seiner Vorlagen vielfältiger als bei Huss. Aber auch bei ihm sind es die Schnappschüsse, diese kurzen, oft belanglosen Szenen, die er in seinen Gemälden thematisiert. Beide Künstler scheinen sich aber ihrer Vorlage, ob Fotografie oder Film auf sehr realistische und direkte Weise zu nähern.
Bei Huss ist die malerische Umsetzung so klar und direkt, dass man meinen könnte man hätte es mit einem Filmstill selbst zu tun – aber eben mit einem Filmstill aus den 1920er-Jahren, der in die Jahre gekommen und etwas verblichen ist.
Sind die Gesichtszüge seiner Protagonisten in den Schwarz-Weiß-Arbeiten oft nur schematisch angerissen oder durch die dargestellte Perspektive beziehungsweise den gewählten Ausschnitt einfach nicht einzusehen, eröffnet sich dem Betrachter der mehrfarbigen Arbeiten ein ganz neues Bild. Nahezu frontal blickt man in klar konturierte Gesichter der dargestellten Personen. Auffällig ist allerdings, dass die Augen der Protagonisten fast immer geschlossen zu sein scheinen.
Im Gegensatz zu den oft dramatischen Szenerien seiner Schwarz-Weiß-Arbeiten gibt es hier keine Interaktion. Stumm und in sich gekehrt, in dicke Winterkleidung eingehüllt, träumen sie vor sich hin. Der Künstler schafft damit Distanz und Abgeschirmtheit. Der Hintergrund ist eigentlich fast immer völlig ausgelöscht und ein intensives Rot dominiert die meist beschränkte Farbpalette.
Mit sehr sparsamen Gesten und einer ohnehin sehr reduzierten, fast nüchternen Bildsprache schafft es der Künstler Till Julian Huss, tiefe menschliche Gefühle, aber eben auch alltägliche Szenen in seinen Bildern zu bannen.

Prof. Dr. Ferdinand Ullrich - Katalogtext zur Ausstellung 'Malerei 07'

Prof. Dr. Ferdinand Ullrich - Katalogtext zur Ausstellung 'Malerei 07'

Filmstills sind das Thema der Malerei von Till Julian Huss. Das eine Bildmedium spiegelt sich im anderen, die Fotografie im traditionell gemalten Tafelbild. Die Szenen aus Stummfilmen der 1920er und 1930er Jahre werden auf sehr allgemeine Gesten reduziert, während das Schwarz-Weiß des frühen Films in der Grisaille-Malerei seine Entsprechung findet. Die technisch gegebene Reduktion des Stummfilms aus Schwarz-Weiß erfährt in der Malerei eine gewollte und bewusst herbeigeführte Reduktion auf einen sehr eingeschränkten Farbkanon. Dies unterscheidet diese Position von der eines Friedmann Hahn, der bereits seit den frühen 1970er Jahren Filmstills zum Vorbild für eine farbintensive Malerei genommen hat. Aber auch von Gerhard Richters Umsetzung fotografischer Bilder unterscheidet sich diese Position. Nicht die Transformation – mehr oder weniger mechanisch – des fotografischen Abbilds auf die Leinwand der Malerei ist sein Thema, sondern der Versuch, die Wirkung der Fotografie in einer nur der Malerei möglichen Weise zu verändern und zu steigern.

Die Graumalerei zusammen mit der Auslöschung der Physiognomien und der Vereinheitlichung des Hintergrundes schafft eine mystische Stimmung, die sich am ehesten noch im Werk von Richard Oelze finden lässt. Menschen vollführen eine Handlung, aber man weiß nicht, welche. Weder weiß man, was sie tun, noch wo sie es tun, noch wer sie sind. Man bleibt im vielfach Ungewissen. Diese Offenheit schafft zugleich Raum für die eigene Phantasie, das Unbestimmte wird unwillkürlich durch eigene Assoziationen und Geschichten gefüllt. Auch die Titel verschweigen mehr als das sie Aufklärung geben könnten.
Sie sind nur eine vorsichtige Andeutung eines möglichen szenischen Inhalts.
Bei aller Reduktion der Farbigkeit zugunsten des Fotografischen wird dennoch das Malerische durch die gleichmäßig weiche Kontur aller Bildmotive bestätigt und zugleich das Anonyme wieder ins Subjektive gerettet.